Lange konnte ich von „meinen sechs Herzensbüchern“ sprechen, also Büchern, deren bloßer Anblick mich schon froh stimmt und die ich immer gerne empfehle. Zum Beispiel das gelbe Buch, das aussieht wie eine Kästner-Ausgabe. Und das schmale Bändchen mit der phantasievollen Sommergeschichte. Oder der pompöse Rücken mit schnörkeligen Illustrationen, ein dickes, spannendes Buch, mit dem man an den Mississippi reisen kann. Mittlerweile sind es einige mehr. Und ganz manchmal kommt eins dazu.
Die Reihenfolge dieser Übersicht stellt keine Wertung dar. Sofern ich dazu einen Text geschrieben habe (was meistens der Fall ist), findet sich dieser im Anschluss der Liste und ist mit dem Titel verlinkt.
Philip Kerr: »Friedrich, der große Detektiv«
Kirsten Boie: »Schwarze Lügen«
Jaqueline Kelly: »Calpurnias (r)evolutionäre Entdeckungen«
Robin Stevens: »Mord ist nichts für junge Damen«
Hoko Takadono: »Wenn meine Haare lang wachsen«
Ulrich Hub, Jörg Mühle: »Das letzte Schaf«
Nikola Huppert, Maja Bohn: »Als wir einmal Waisenkinder waren«
Clémentine Beauvais: »Die Königinnen der Würstchen«
Mirjam Pressler: »Dunkles Gold«
Ernst Gombrich: »Eine kurze Weltgeschichte für junge Leser«
Stephen Davies: »Titanic. 24 Stunden bis zum Untergang«
Eva Ibbotson: »Das Geheimnis von Bahnsteig 13«
Andy Stanton: »Sie sind ein schlechter Mensch, Mr. Gum«
Myriam Ouyessad, Ronand Badel: »Der Wolf kommt nicht«
John Hare: »Ausflug zum Mond«
Astrid Lindgren: »Nils-Karlsson Däumling«
Astrid Lindgren: »Kalle Blomqvist«
Anne Holm: »Ich bin David«
Herrmann Vinke: »Das kurze Leben der Sophie Scholl«
Davide Morosinotto: »Verloren in Eis und Schnee«
Quentin Blake, John Cassidy: »Zeichnen für verkannte Künstler«
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Kein Spiel mehr
Spannend, ernst, traurig. Dieses Buch ist etwas ganz Besonderes. Ein Kinder-Krimi, eindringlich verwoben mit der Zeit, in der er spielt. 1933.
Der 13-jährige Friedrich liebt das Buch „Emil und die Detektive“ und möchte Detektiv werden. Darum ist er sehr stolz, als er Erich Kästner kennenlernt und sie Freunde werden. Mit seiner Bande streift er zur Übung durch den Tiergarten, um Fundstücke zu sichern und den Besitzer wiederzufinden. Sein Freund Leo ist verschwunden, sein Bruder tritt in die NSDAP ein. Friedrich versucht zu verstehen, was da alles passiert und genießt die klugen Gespräche, die er mit Kästner führen kann. Als er vom Kommissar im Tiergarten als Spion auf Kästner angesetzt wird, muss er genau überlegen, was richtig und falsch ist.
Philip Kerr ist eine komplexe und spannende Geschichte gelungen, die wohl so besonders berührt, weil Erich Kästner selber in der Geschichte auftritt. Es geht unter die Haut, als Kerr den Schriftsteller die Verbrennung seiner eigenen Bücher noch einmal erleben lässt. Kerr selber ist für mich mit seinem großartigen Oeuvre Kinderliteratur ein Nachfolger Kästners.
Philip Kerr: »Friedrich, der große Detektiv.« Rowohlt. Ab 11 Jahren.
Schwarze Lügen oder schwarze Lügen?
2014 erschien mit „Schwarze Lügen“ ein Buch, das man vordergründig als spannenden Krimi bezeichnen kann: In der Tasche der 15-jährigen Melody landet die Beute eines Bankraubs und ihr Bruder wird fälschlicherweise dieses Verbrechens beschuldigt. So einfach ist das aber nicht. Daneben geht es auch um Familienbande und, ja, Rassismus. Dieses Thema ist auf überraschende Weise in die Geschichte eingewoben und stellt den Leser auf eine besondere Probe.
Besonders, wenn auch nicht nagelneu, ist auch die Erzählweise: Die Geschichte wird aus den Perspektiven von xx sehr verschiedenen Personen erzählt, die sich beim Erzählen quasi abwechseln. Nur Stück für Stück bekommt der Leser das große, ganze Bild geliefert. So tastet man sich ein wenig wie ein Blinder in die Geschichte hinein und ahnt bald, dass hier nicht immer alle Fakten auf den Tisch kommen. – Oder sind sie vielleicht gar nicht so wichtig, wie wir denken?
Trotz der klaren Sprache liegt in diesem anspruchsvollen Einstieg möglicherweise der Grund, warum das Buch nicht so viel Beachtung fand. Dabei wird es spätestens dann, wenn man alle Protagonisten kennengelernt hat, erst so richtig spannend.
Kirsten Boie: »Schwarze Lügen.« Oetinger. Ab 12 Jahren.
Echter Pioniergeist
Die Geschichte eines Mädchens, das Ende des 19. Jahrhunderts auf einer Baumwollplantage in den Südstaaten der USA aufwächst. Aus welcher Mottenkiste ist das denn? Könnte man denken. Doch dies ist kein verträumtes Mädchenbuch, das die gute alte Zeit beschwört. Denn die zwölfjährige Calpurnia interessiert sich nicht für Handarbeiten oder Teekränzchen. Nein, Calpurnia und Scarlett wären wahrscheinlich keine Freundinnen geworden.
Calpurnia ist ein schlaues Mädchen, das viel lieber die Tier- und Pflanzenwelt erforscht. Dies gefällt den Eltern immer weniger; die Lektüre eines gerade erschienenen Buches von einem gewissen Charles Darwin, wird ihr sogar verboten. Nur bei ihrem schrulligen Großvater findet sie Verständnis und Unterstützung.
Die Geschichte wird vom Verlag zwar als „einfühlsamer Mädchenroman“ bezeichnet, wozu auch die filigrane Coverillustration passt. Doch das trifft es nicht ausreichend. Denn Jaqueline Kelly gelingt es, das Leben und den Zeitgeist des Jahres 1899 so facettenreich zu beschreiben, dass es viel mehr ist: Die großen technischen und gesellschaftlichen Veränderungen dieser Epoche. Die Spaltung des Landes nach dem Bürgerkrieg. Die Rassentrennung. Calpurnias Neugier verkörpert die Zweifel an der Rechtmäßigkeit alter Denkweisen. Doch man spürt, dass diese Zweifel leider nur sehr leise widerhallen.
Jaqueline Kelly: »Calpurnias (r)evolutionäre Entdeckungen.« dtv Reihe Hanser. Ab 12 Jahren.
Mutige Mädchen
Zum Glück spielen in Detektivgeschichten mittlerweile nicht immer Jungs die Hauptrolle. Mein absoluter Favorit ist die Reihe „Ein Fall für Wells & Wong“, deren erster Band 2016 erschien. Seitdem freue ich mich auf jede neue Geschichte und wurde noch nie enttäuscht. Die Britin Robin Stevens schickt die beiden Detektivinnen Daisy und Hazel jedes Mal in ein neues Milieu und schreibt witzig und spannend. Jede Geschichte steht für sich, doch empfehle ich, mit Band 1 anzufangen.
Dass die 13-jährigen Freundinnen nicht immer nett und sympathisch sind, macht die Figuren besonders glaubwürdig. Die schlaue Daisy, ein echtes Mädchen der Upper Class, behandelt andere oft herablassend und dominant, die Hongkong-Chinesin Hazel ist so furchtbar vorsichtig, dass es nervt. Neben den Ermittlungen geht es auch um die Freundschaft der beiden und ihre unterschiedlichen Kulturen – alles spannend und lustig aus Hazels Perspektive erzählt.
Was ist hier los? 1934, ein Internat irgendwo in England. Hier gründen Daisy und Hazel eine supergeheime Detektei und brauchen nicht lange auf den ersten Fall zu warten. Denn ausgerechnet die vorsichtige Hazel stolpert über die Leiche einer Lehrerin. Entsetzlich! Aber natürlich auch sehr praktisch. Die Ermittlungen werden dann nur leider von einem Kommissar gestört, ganz wie es sich für einen guten Krimi gehört.
Im aktuellen Band 6 fahren die beiden Mädchen übrigens nach Hongkong zu Hazels Familie und geraten auch hier wieder in einen Mordfall. Hongkong in den 1930ern – das ist eine interessante Geschichtsstunde mit aktuellem Bezug.
Robin Stevens: »Mord ist nichts für junge Damen.« Aus dem Englischen von Nadine Mannchen. Knesebeck. Laut Verlag ab 12 Jahren, ich würde sagen: ab 9 Jahren.
Alles ist möglich
Ein gutes Buch sagt etwas, ohne es zu sagen. Zum Beispiel wie schön man ist. Oder, dass alles möglich ist. Die Japanerin Hoko Takadono hat diese Gedanken in eine lustige Geschichte gefasst und zum Niederknien schön illustriert. Wir Erwachsenen schauen neidisch auf die Sorglosigkeit, die in den Kindern steckt.
Mir gefällt auch der Hauch Japan, der über diesem zeitlosen Buch liegt. Der japanische Titel lautet ,Ma-Chan no nagai kami‘, was den Inhalt ziemlich gut zusammenfasst: Die langen Haare der kleinen Ma.
Was ist hier los? Hana, kurze Haare, und ihre Freundinnen Mari und Emi, lange Haare, sitzen eines Sommertages bei einem Glas Limonade beisammen und philosophieren über die Vor- und Nachteile von langen Haaren. Die Freundinnen staunen über das wahrhaftig phantastische Leben, das Hana mit langen Haaren haben wird und freuen sich ganz neidlos für sie. Das ist so schön.
Hoko Takadono: »Wenn meine Haare lang wachsen.« Aus dem Japanischen von Keiko Funatsu. Edition Bracklo. Ab 3 Jahren. Übrigens auch in einer großen Kindergarten-Ausgabe erhältlich.
The Weihnachtsgeschichte
Endlich erfährt die Welt, wie es damals eigentlich den Schafen erging. Damals, vor bummelig 2000 Jahren. Da war nämlich ganz schön was los auf der Weide, als die Herde mitten in der Nacht von einem hellen Stern geweckt wurde und entdeckte, dass die Hirten weg waren.
Als die Rasselbande dann erfährt, dass ein Baby mit lockigem Haar – juchu, ein Mädchen! – geboren wurde, sind sie völlig aus dem Häuschen und machen sich auch auf den Weg, um es zu besuchen. Eine lustige Geschichte mit viel Situationskomik, die dennoch ein kleines bisschen die Andacht der Weihnachtszeit spüren lässt.
Als Buch liest sich die Geschichte wunderbar, doch zum Glück hat sich der Autor Ulrich Hub auch selber vor das Mikrofon gesetzt und losgelesen. Jedem Schaf gibt er eine eigene Stimme – wunderbar! Mein Favorit: das lispelnde Schaf mit der Zahnspange. Ein Hörbuch mit Mehrwert.
Ulrich Hub, Jörg Mühle: »Das letzte Schaf.« Silberfisch. Ab 8 Jahren.
Sommertag ohne Eltern
Drei Schwestern, groß, mittel, klein. Die lieben sich, klar, aber die nerven einander natürlich auch. Nur an dem Ferientag, als die Eltern ohne sie eine Wanderung ins Teufelsmoor machen, da ist alles anders zwischen ihnen. Denn was ist, wenn die Eltern nicht zurückkehren? – und das Leben fühlt sich plötzlich ganz anders an.
Eine richtig schöne Feriengeschichte, der Maja Bohn durch ihre wunderbaren Illustrationen sommerliche Leichtigkeit verleiht und den Figuren zusätzlich Charakter gibt. Gut zum Vorlesen und schön kurz für Erstleser.
Nikola Huppertz, Maja Bohn: »Als wir einmal Waisenkinder waren.« Tulipan Verlag. Ab 7 Jahren.
Tu was!
Königinnen der Würstchen? Was für ein bescheuerter Titel für ein Buch. Genauso bescheuert wie die Idee eines Mitschülers, jährlich die hässlichsten drei Mädchen der Schule zu küren. Ja, hier geht es also um Schul-Terror, aber nicht so stereotyp wie in vielen amerikanischen Romanen, in denen das Opfer dann in der Schulkantine alleine Essen muss, sich die Augen schwarzmalt und in Wortlosigkeit vergräbt.
Stattdessen bekommt die pummelige Erzählerin eine tolle Stimme. Klar ist sie verletzt, aber sie hat eine Selbstdistanz und Humor. Sie lebt ihr Leben und akzeptiert die Opferrolle nicht. Auch die anderen Figuren sind interessant, die Dialoge authentisch und lustig. Und es ist schön, dass das Buch in Frankreich spielt. Schade, dass das Cover so irreführend öde gestaltet ist. Die Geschichte hätte etwas cooleres verdient.
Worum geht es? Mireille weiß wohl, dass sie nicht hübsch ist. Das sagt ein Blick in den Spiegel. Außerdem hat der Idiot Malo sie auf Facebook zur dritthässlichsten Schülerin erkoren. Leider nicht zum ersten Mal: Vergangenes Jahr war sie auf Platz 1. Und jetzt nur Platz 3? Als Mireille ihre Konkurrentinnen kennenlernt, findet sie in ihnen mehr als Schicksalsgenossinnen. Gemeinsam planen sie eine schräge Reise, bei der sie ihre Wut loswerden und ein paar Dinge, die quer liegen, klären können.
Clémentine Beauvais: »Die Königinnen der Würstchen.« Aus dem Französischen von Annette von der Weppen. Carlsen. Ab 14 Jahren.
Traurig-schöne Geschichte
Die großartige Autorin und Übersetzerin Mirjam Pressler hatte ein bewegtes Leben und sie ist wahrscheinlich die einzige deutsche Schriftstellerin, die einen Jeansladen hatte. Nur wenige Wochen vor ihrem Tod konnte sie ihr letztes Buch fertigstellen. Es liest sich wie ein Abschiedsgeschenk.
Im Zentrum der Geschichte steht der Erfurter Schatz, eine große Sammlung Silbermünzen, Schmuckstücke und Silbergeschirr, die wahrscheinlich während des Pogroms 1349 vergraben wurde. Um diesen Schatz herum hat Pressler zwei Geschichten verwoben: Die eine spielt im heutigen Erfurt und handelt von der 16-jährigen Laura, die andere erzählt von Rachel, die im mittelalterlichen Erfurt lebte. Sehr lebendig beschreibt Pressler das Leben im Mittelalter mit all seinen Widrigkeiten, weit entfernt vom heutigen Komfort, und erzählt von der Liebe, Antisemitismus und jüdischer Kultur.
Ein spannender historischer Roman mit vielen interessanten Persönlichkeiten.
Mirjam Pressler: »Dunkles Gold.« Beltz & Gelberg. Ab 14 Jahren
Die beste Geschichtsstunde der Welt
Mein sehr belesener Sohn Henri meinte, dass dieser Klassiker nicht fehlen darf. Als Buch bietet es die Möglichkeit zum Nachschlagen oder um sich ein Thema fürs Referat auszusuchen. Von Christoph Waltz vorgelesen finden wir es beide aber noch besser: Waltz‘ freundlicher Erzählton mit einem zarten Hauch österreichischer Färbung passt einfach perfekt – und schließlich war auch der Autor Wiener.
Der Kunsthistoriker Ernst H. Gombrich schrieb das Buch 1935. Dass es bis heute käuflich ist und vor rund zehn Jahren noch eine erstklassige Hörbuch-Fassung produziert wurde, spricht für die Qualität dieses Werks. Nur ein Jahr nach Erscheinen musste Gombrich ins Exil, das Buch wurde verboten. Erst 1985 und kurz vor seinem Tod im Jahr 2001 aktualisierte er das Buch um ein Nachwort und schließt mit hoffnungsvollen Worten an die immer jungen Leser.
Was war sein Geheimnis? Gombrich gelingt es, den Lauf der Weltgeschichte auf ihre wesentliche Aspekte herunterzubrechen und Zusammenhänge anschaulich zu erklären. Er heroisiert weder Sklaverei noch Krieg – was damals nicht selbstverständlich war. Wenn man Christoph Waltz zuhört, ist es, als säße man mit einem freundlichen, gelehrten Herrn auf einer langen Zugfahrt beisammen, während man sich langsam dem Ziel nähert – der Gegenwart. Großartig.
Was ist hier los? Der Lauf der Zeit in vielen kleinen Häppchen: Von der Vorgeschichte bis zum Mittelalter und von der Renaissance bis zum 1. Weltkrieg. Gombrich liefert Erklärungen zu den Meilensteinen in Kultur, Technik und Politik nicht nur in Europa, sondern auch in China, Südamerika oder Indien.
Ernst Gombrich: »Eine kurze Weltgeschichte für junge Leser.« Von den Anfängen zum Mittelalter/Von der Renaissance bis heute. Argon Verlag/Dumont Verlag. Ab 10 Jahren.
Nichts für schwache Nerven
Ach, die Titanic! Was für eine traurige Geschichte. Aber wäre sie nicht so einzigartig und dramatisch, gäbe es wohl nicht derart viele Bücher und Filme über diese Tragödie. Und jetzt also für Kinder. Wirklich? Ja, aber vielleicht nicht gerade vor dem Einschlafen.
Wir begleiten den 12-jährigen Jimmy von der Erkundung des Schiffes bis zu dessen grausamen Untergang. Wie immer packend vorgetragen von Rainer Strecker und sehr gelungen untermalt von vielen unterschiedlichen Musikstücken, die Stimmung und Geschehnisse an Bord widerspiegeln. Das Ende ist bekannt und doch fiebert man mit, wenn es in die letzten spannenden Szenen geht – und freut sich über das gute Ende, das es jedenfalls für Jimmy und seine Freunde nimmt. Schaurig-schön.
Stephen Davies: »Titanic. 24 Stunden bis zum Untergang.« Der Audio Verlag. Ab 8 Jahren.
Was vor Harry Potter geschah
Vor einigen Jahren fiel mir dieses Buch von Eva Ibbotson in die Hände und ich konnte kaum fassen was ich da las: Komische Gestalten tauchen auf dem Bahnsteig 13 in King‘s Cross auf, um in eine andere Welt zu gelangen. Hatte die Autorin etwa bei Harry Potter geklaut? Nein, diese Geschichte erschien schon 1994. Es ist J. K. Rowling die die Idee vom verzauberten Bahnsteig bei Ibbotson gemopst hat – was diese übrigens überhaupt nicht störte. It’s a give and take in der Literatur.
Die Geschichte ist temporeich und voller schräger Figuren. Was sie darüber hinaus auszeichnet sind die Lebensklugheit und Wärme für alle menschlichen Wesen.
Was ist hier los? Was kaum jemand weiß: Jedes Land hat einen Gügel. In Großbritannien schlummert er im Bahnhof von King’s Cross hinter der Herrentoilette und nur die Geister, die sich dort noch herumtreiben erinnern sich an ihn. Er führt zu einer Insel, mit einem Königreich voller merkwürdiger Wesen. Alles ist hier friedlich, bis der Königssohn durch diese Tür entführt wird und einige Auserwählten ihn aus der Welt hinter der Tür zurückholen sollen.
Eva Ibbotson: »Das Geheimnis von Bahnsteig 13.« Aus dem Englischen von Sabine Ludwig. dtv junior. Ab 11 Jahren.
Lustige Vorlesestunde
Schüttle dich, mach dich frei und tanz deinen Namen, jetzt kommt Mr. Gum. An diesem Buch ist nichts so, wie man es von einem Kinderbuch kennt. Die Seiten sind fleckig, die Zeichnungen krakelig und die Geschichte, gespickt mit Absurditäten und Wortwitz, gerät immer wieder auf Abwege.
Der Brite Andy Stanton schrieb sie für seine Cousins, doch die waren nicht begeistert. So verschwand das Manuskript in einem Karton – bis er es wiederentdeckte und einen einzigen Verlag fand, der es komisch fand. Das Buch wurde so ein Erfolg, dass Stanton noch sieben weitere Bände schrieb.
Ich könnte auch einfach schreiben: Übersetzt von Harry Rowohlt. Dann wäre klar, dass dies Kinderliteratur vom Feinsten ist. Tatsächlich ist kaum denkbar, dass jemand anders diese Geschichten hätte übersetzen können. Auch die Hörbücher hat er eingelesen – ein Erlebnis. Danke, Harry Rowohlt.
Worum geht es? Mr. Gum ist ein ätzender Miesepeter aus Bad Lamonisch an der Bibber. Nichts liebt er mehr als Boshaftigkeit und im Bett rumgammeln, nichts hasst er so wie Kinder, Spaß und Sauberkeit. In seiner Badewanne wohnt eine unfreundliche Fee, die ihn zur Gartenarbeit antreibt. Als Jakob, der Hund, seinen Garten verwüstet, schmiedet Mr. Gum einen üblen Plan. Zum Glück stellt sich die mutige Polly ihm in den Weg.
Andy Stanton, David Tazzyman: »Sie sind ein schlechter Mensch, Mr. Gum.« Aus dem Englischen von Harry Rowohlt. dtv junior/Argon Verlag. Ab 8 Jahren.
Nix für Angsthasen
Es ist Abend und irgendwo in Frankreich wird Häschen ins Bett gebracht. Während Mama es ihr (oder ihm) schön kuschelig macht, entspannt sich ein Dialog zwischen den beiden, der nur zusammen mit den Illustrationen zu einer unglaublich einfallsreichen Gute-Nacht-Geschichte wird.
Ein Bilderbuch, so spannend wie ein Krimi, aber mit einem lustigen Ende. Ich werde nicht müde, es anderen vorzulesen und freue mich jedes Mal wieder auf die überraschten Gesichter. Mehr wird nicht verraten.
Myriam Ouyessad, Ronand Badel: »Der Wolf kommt nicht.« Aus dem Französischen von Ina Kronenberger. Gerstenberg. Ab 3 Jahren.
In 50 Jahren
Großflächige, schöne Bilder erzählen vom Wandertag auf dem Mond unter Führung eines Lehrers. Doch das Kind mit den bunten Stiften bleibt zurück. Und dann? Diese wunderbare, lustige Geschichte wird Ihnen Ihr Kind selber erzählen, denn das Buch kommt ganz ohne Worte aus. Phantastisch!
P. S. Mittlerweile ist ein zweiter Band erschienen. Dieses Mal erkundet die Klasse die Tiefen des Ozeans.
John Hare: »Ausflug zum Mond.« Moritz. Ab 4 Jahren.
Gegen das Vergessen
Als die Wehrmacht sich im Sommer 1941 Leningrad nähert, werden die Zwillinge Nadja und Viktor zusammen mit Tausenden anderer Kinder evakuiert. Am Bahnhof müssen sie zu ihrem Entsetzen verschiedene Züge besteigen und können sich gerade noch versprechen, für den anderen Tagebuch zu schreiben. Dann beginnt für beide eine dramatische Odyssee, die erst im Winter enden soll. Ein spannendes Buch, das trotz aller Schrecken einen optimistischen Grundton hat.
Auffallend ist die Gestaltung: Die Tagebücher der Kinder sind als Faksimile abgedruckt und mit Kommentaren eines sowjetischen Funktionärs versehen, dem die Bücher einige Jahre später in die Hände fallen. So bekommt die Geschichte noch eine zusätzliche historische Dimension und wird zu einem anspruchsvollen Buch, das auch für ältere Jugendliche interessant ist.
Davide Morosinotto: »Verloren in Eis und Schnee.« Die unglaubliche Geschichte der Geschwister Danilow. Aus dem Italienischen von Cornelia Panzacchi. Thienemann. Ab 12 Jahren.
Zeichnen für verkannte Künstler
Zufällig entdeckte ich vor einigen Wochen dieses supertolle Zeichen-Buch, das schon 2010 erschien und zum Glück immer noch verlegt wird. Es ist nicht nur verständlich, voller witziger Ideen und Mut machend, sondern auch schön albern geschrieben. Das liegt sicher am Co-Autor und Illustrator Quentin Blake, der für seinen lustigen Strich berühmt ist.
Ob es ein Kinderbuch ist? Mir fällt niemand ein, für den es nicht ist. Einfach mal ein bisschen Rumkritzeln tut gut. Mit großer Leichtigkeit wird man auch zum Nachsinnen und Beobachten angeregt und mit klugen Gedanken bei Zweifeln und Misslingen beschenkt.
Was ist hier los? Kerzen, Nasen, Schatten oder Tiere werden nach der weltweit bewährten „Einfach-Drauf-Los“-Methode gezeichnet. Man braucht nur einen Bleistift, einen roten Buntstift und einen Fineliner. Gemalt wird direkt ins Buch, das mit leichter Hand durch die vielen Facetten des kreativen Prozesses führt.
Von John Cassidy gibt es auch noch ein ähnliches Buch, genauso motivierend gestaltet: Malen für verkannte Künstler.
Quentin Blake, John Cassidy: »Zeichnen für verkannte Künstler.« Kunstmann Verlag. Ab 7 Jahren.
Beitragsfoto: © josh vuong | unsplash