Interview

Interviews

Paul Maar, DER SPIEGEL, 20. August 2020
Helme Heine, DER SPIEGEL, 4. April 2021


Gespräch mit Paul Maar

Im Juli 2020 interviewte ich Paul Maar im Auftrag des SPIEGEL anläßlich seiner Autobiografie. Hier eine etwas längere Fassung des Gesprächs. Paul Maar ist ein Mensch, der echte Freude an einer guten Geschichte oder auch nur einem Scherz hat. Ich verstehe nach der Begegnung mit ihm, warum er sich das Sams und all die vielen anderen Geschichten ausdenken konnte. 

„Das Buch ist eine Hommage an meine Frau.“

DER SPIEGEL Herr Maar, Sie sind 82 Jahre alt und innerhalb von zwei Monaten erscheinen drei Bücher von Ihnen. Der zehnte Sams-Band, ein Bilderbuch und eine Autobiografie. Was treibt Sie an? 

Paul Maar Was treibt mich an. (lacht) Vielleicht die Angst vor dem Alter? Oder die Möglichkeit, der Demenz zu entgehen, indem ich mich geistig bewege? Ich freue mich immer über neue Ideen und wenn ich dann merke, es läuft noch, denke ich: Ja, ich bin noch fit. 

S Und warum haben Sie eine Autobiografie geschrieben? Gehört sich das für einen berühmten Autor oder wollten Sie sich etwas beweisen?

Paul Maar Nein, weder noch. Es war so: Vor einem Jahr hatte ich eine Herzoperation. In der Reha-Klinik besuchte mich unser Sohn Michael mit seinem Literaturagenten. Der Agent meinte, es würde viele Menschen interessieren, was für eine Kindheit der Mensch hinter dem Sams hatte. In der restlichen Zeit habe ich mit großem Spaß die ersten 80 Seiten geschrieben.

S Ja, so liest es sich auch. 

Paul Maar Das Buch ist aber keine Autobiografie, sondern ein autobiografischer Roman. So kann ich vor- und zurückblenden, andere Figuren ins Visier nehmen und Verbindungen zwischen früher und heute herstellen.

S Das Ergebnis sind anschauliche, manchmal fast verträumte Episoden Ihrer Kindheit. Sie nennen Ihre Geschichten „Erinnerungspfützen“. Erinnern Sie sich heute an andere Dinge als vor 20 Jahren? 

Paul Maar Die Dinge, die man als Kind oder junger Mann erlebt hat, die sind manchmal viel näher als das, was ich vor 14 Tagen erlebt habe. Ich habe fast das Gefühl, das Ganze ist ein Kreis und man nähert sich wieder dem Ausgangspunkt des Kreises. 

Hatten Sie beim Schreiben eine Technik, um sich zu erinnern?

Paul Maar Ich habe mich an Gerüche meiner Kindheit erinnert. Zum Beispiel in der Schule: Dieser Geruch aus Tafel und Kreide. Dann meine Nachbarn, die Bauernkinder waren und einen leichten Stallgeruch hatten. Das verbunden mit dem schabenden Geräusch, wenn wir mit unseren Griffeln auf Schiefertafeln schrieben und dem Schwämmchen, das oft ein bisschen roch. Wenn ich mir diese Gerüche wieder ins Gedächtnis rufe, dann entsteht so eine Klassenzimmer-Situation. Ich erinnere mich an viele Kinder und kann von denen dann wiederum eine Episode erzählen. 

S Sie wurden 1937 in Schweinfurt geboren und Ihr Leben fing sehr traurig an. Ihre Mutter starb einige Wochen nach Ihrer Geburt an einer Brustentzündung, die der Arzt bagatellisiert hatte. Nach der Beerdigung ging Ihr Vater zum Haus des Arztes, um ihn zu erschießen. Was für eine Geschichte!

Paul Maar Ja, das ist eine echte Geschichte. Er war ein sehr jähzorniger Mensch und konnte sich leicht in was versteigern. Und da hat er halt das Gefühl gehabt, dieser Arzt ist schuld. Ich das erst später von meiner Schwester erfahren. Mein Vater hat ihr unter Tränen erzählt: „Weißt du, damals hätte ich den Arzt erschießen können. Ich hatte mir einen Revolver besorgt. Gott sei Dank war er in den Urlaub. Sonst wäre der Paul ohne Vater aufgewachsen und ich im Gefängnis gelandet.“

S Was haben Sie gedacht, als Sie davon erfuhren?

Paul Maar Ich war gleichzeitig gerührt und schockiert. Mein Vater – ein Mörder? Das hätte ich nicht ausgehalten. 

S Als Sie drei waren, passierte etwas Wunderbares. Ihr Vater heiratete erneut und diese Frau liebte Sie wie ein eigenes Kind. Es klingt wie ein Märchen. 

Paul Maar War auch so. Ich hätte keine bessere Stiefmutter haben können. Vor vier Jahren habe ich ihr in der „Zeit“ einen Liebesbrief geschrieben. Und sie hat im Schweinfurter Tageblatt zurückgeschrieben. 

Vor vier Jahren? Wie alt war Ihre Mutter denn da?

Paul Maar Das war zu ihrem 100. Geburtstag. Sie schrieb, dass sie im Grunde nicht ihren Mann geheiratet hätte, sondern mich. Beim ersten Begegnen habe sie schon das Gefühl gehabt, dieses Kind würde ich gerne annehmen. Dann hat sie halt den Mann in Kauf genommen. 

Was ist Ihre früheste Kindheitserinnerung? 

Paul Maar Ach, da gibt es ein ganz prägendes Erlebnis. Das habe ich nie vergessen. Damals war ich etwa vier Jahre alt. Das konnte ich sofort hervorholen, weil ich mich damals so erschreckt habe. Ich hatte eine Vision mit Fischen, die durch mein Zimmer schweben und die plötzlich nicht mehr wegzukriegen sind. Ich weiß nicht, ob das ein Schizophrenie-Schub war oder ob ich da auf Drogen war. 

Als Ihr Vater im Krieg war, zogen sie mit Ihrer Mutter zu deren Eltern. Dort saßen Sie stundenlang am Esstisch, malten und hörten den Erwachsenen zu. Hat das Einfluss auf Ihr Geschichtenerzählen gehabt? 

Paul Maar Durchaus. Und wohl auch mein liebevoller Großvater Schorsch Mattenheimer. Er hat tagsüber in seiner Werkstatt Fässer gemacht und mir Geschichten erzählt, während ich auf einem Haufen Hobelspänen saß. Und abends ging es weiter in der Gastwirtschaft. Die war voll, weil klar war, dass der alte Herr Mattenheimer so schön Geschichten erzählen kann. Und ich habe gemerkt, dass Dinge, die wir gemeinsam erlebt hatten, am Abend etwas anders erzählt wurden. Die hatten eine kleine Pointe am Schluss, über die alle gelacht haben. Er sagte: „Es muss nicht hundertprozentig wahr sein, aber witzig. Wichtig ist, dass es eine gute Geschichte ist.“

Mit Ihrem Kindheitsfreund Lud sind Sie bis heute befreundet. Wie kann eine Freundschaft so lange halten? 

Paul Maar Ich glaube, wenn sie in der Kindheit beginnt und tief begründet ist. Es gab Phasen, da haben wir uns zehn Jahre nicht gesehen oder geschrieben. Aber die Freundschaft blieb untergründig bestehen. Man kann sie jederzeit hervorholen. 

Als Ihr Vater aus der Gefangenschaft zurückkehrt, sind Sie neun. Jetzt herrscht ein verbitterter Mann, der sie schlägt und die Familie zurück nach Schweinfurt zwingt

Paul Maar Ja. Die Zeit in Schweinfurt, als ich weggeholt wurde aus dem idyllischen Obertheres, das war hart. Und dann noch dieser strenge, strafende Vater. Drum bin ich auch einen Tag nachdem ich Abitur gemacht hatte, weg aus dem Elternhaus. 

S Sogar bei der letzten Begegnung mit Ihrem Vater vor dessen Tod ist er schroff und distanziert. Dennoch hat das Buch ein versöhnliches Ende.

Paul Maar Ja. Dank eines Briefes, den ich aber erst nach seinem Tod bekam. In all seinen Briefen an meine Mutter war seine erste Frage immer: Wie geht es meinem lieben Paul? Und in dem Brief, mit dem ich das Kapitel Kindheit abschließe, geht er sogar so weit, dass er sagt: „Falls ich sterben sollte, bitte sorge dafür, dass der Paul einen guten Vater bekommt. Vielleicht könntest du dann meinen Bruder heiraten.“

Das ist stark. 

Paul Maar Ja, das ist schon stark, nicht wahr? Ich kann mir vorstellen, dass diese Liebe ihm die Kraft gegeben hat, vieles zu überleben. Es war hart war in der Gefangenschaft. Und dann kommt er nach Hause und denkt, er könne diesen kleinen Paul umarmen. Und was macht der? Der wendet ihm den Rücken zu, redet nicht mit ihm und zeigt ihm, dass er unwillkommenen ist. 

S Sie waren vielleicht mehr als nur sein Kind, sondern auch Stellvertreter seiner verstorbenen Liebe? Das war eine große Last. 

Paul Maar So ist es. Für mich wiederum war es halt so: Ich hatte eine enge Verbindung mit meiner Stiefmutter. Wir schliefen zwar nicht im Doppelbett, aber mit zwei Betten nebeneinander. Ich war ihr „kleiner Mann“, wie sie sagte. Und nun kommt dieser Typ, schmeißt mich raus, schiebt die Betten zusammen, ist jetzt bei meiner Mutter. Und ich bekomme die Rumpelkammer zugewiesen, in der sonst die Fahnen vom Turnverein liegen. Ich glaube, dass aus dieser Enttäuschung, dass seine Liebe nicht erwidert wurde, seine Gefühle in Frust umschlugen. 

S Sie schreiben, dass Sie durch Ihr Verhalten dazu beigetragen hätten, dass der liebende Vater zum Schrecken werden konnte. Da gehen Sie ganz schön streng mit sich selber ins Gericht.

Paul Maar Das hat mein Lektor auch gesagt. Nun hatte ich’s geschrieben, nun wollt ich’s auch lassen.

Auch in der Schule hatten Sie es nicht leicht. Sie wurden gehänselt und von Lehrern gedemütigt. Was sagen Sie Kindern, die Sorgen haben?

Paul Maar Ich würde ihnen raten: Hör in dich rein. Du hast einen festen Kern, der nur dir gehört, auf den kannst du zurückgreifen. Du kannst viel mehr, als du denkst. Und etwas Praktisches kann auch helfen: Vertraue dich einem Erwachsenen an, den du magst.

S Sie schlagen auch einen Bogen zur Gegenwart, die geprägt ist von der Alzheimer-Erkrankung Ihrer Frau Nele und erzählen ganz offen von Ihrem Alltag. 

Paul Maar Ich bin so eng mit meiner Frau und wollte ihr zuliebe auch etwas von ihr erzählen. Denn ohne sie wäre ich nicht der, der ich heute bin. Das Buch ist eine liebevolle Hommage an sie. Ich erzähle, dass selbst wenn jemand an Alzheimer erkrankt ist, man trotzdem noch eine enge Verbindung haben kann. Wir schlafen abends händchenhaltend ein, wie in alten Zeiten, und das beruhigt mich – und sie auch.

Ihre Frau war Psychotherapeutin. Wie hat sie auf die Diagnose reagiert? 

Paul Maar Sie ist erstaunlich ruhig damit umgegangen und immer noch ein freundlicher, heiterer Mensch. Sie ist so liebevoll, umarmt mich und lacht viel. 

S Sie mussten erst lernen, die Welt zu akzeptieren, in der sie lebt.

Paul Maar Genau. Zum Beispiel, wenn sie sagt, sie müsse zur Schule. Dann sage ich nicht mehr „So ein Blödsinn, du kannst nicht in die Schule.“, sondern finde etwas, das in ihrer Welt liegt, wie „Im Moment sind gerade Ferien“. Dann sagt sie „Ach ja, natürlich“. Einmal habe ich gewagt, sie nach ihrem Alter zu fragen. „17“, sagte sie. Da wusste ich: Sie will in die Schule, um mich dort zu treffen, den 17-Jährigen. In dem Buch kann ich daran anknüpfen und erzählen, wie ich sie kennengelernt habe und wie ihre Bekanntschaft geholfen hat, aus dem engen Schweinfurter Handwerkermilieu herauszukommen. 

S Beim Lesen spürt man förmlich, dass Sie freier atmen, als Sie zu ihr nach Hause kommen. 

Paul Maar Ich wäre sonst wohl ein stadtbekannter Maler geworden, der Hausfassaden verziert. Vielleicht wäre ich damit zufrieden gewesen. Aber durch die Schauspieler-Familie meiner Frau kam ich in ein völlig anderes Milieu und merkte: Ja, das ist meine Welt. 

Zum Schluss muss Frau Sonntag natürlich über das Sams sprechen. 1973 erschien der erste Band, nun der 10. – haben Sie es gar nicht über?

Paul Maar Nein, ich habe es nicht über. Dieser Band ist gewissermaßen eine Dankesschuld an einen Meister im Kunstdrachenbau, der mir einen Sams-Drachen geschenkt hat. Dafür wollte er kein Geld, sondern ein Buch, in dem ein Drachen vorkommt. Also schrieb ich ein Sams-Drachen-Buch. Aber nicht ganz so, wie er sich das wohl vorgestellt hat. (lacht)

Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen Ihrer Kindheit und dem Autor, der Sie wurden? 

Paul Maar Ich habe mal ein bisschen angeberisch gesagt, dass Kinderbuchautoren meistens eine spezielle Kindheit haben. Entweder so eine sonnige wie Astrid Lindgren, die dann später mit dem unehelichen Sohn unglücklich in Stockholm saß und beim Schreiben ihre glückliche Kindheit heraufbeschwor. Oder eine wie Janosch, der eine fürchterliche Kindheit hatte und sich in die schöne Kindheit imaginiert hat. Bei mir ist es nicht so extrem wie bei Janosch. Ein bisschen aber doch schon so. Wichtig sind auch tiefe Wurzeln in die eigene Kindheit, um gut für Kinder schreiben zu können. Ich denke, man muss das Kind in sich selber hochholen und dann überlegen, wie es sich in dieser Situation verhalten hätte.

S Haben wir irgendwas vergessen?

Paul Maar Ja, ich darf Sie daran erinnern, dass wir vielleicht, bitteschön nochmal, wenigstens kurz, auch das neue Bilderbuch „Die Goldene Schildkröte“ erwähnen?

Gut, dass Sie das sagen. Worum geht es da?

Paul Maar Die Schildkröte Roswitha hat etwas auf ihrem Rücken stehen, kann es zu Ihrem Verdruss aber nicht lesen. In vielen lustigen Bildern von Eva Muggenthaler wird erzählt, was ihr alles passiert, bis es ihr endlich jemand vorliest.

S Herr Maar, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

Paul Maar: »Wie alles kam. Roman meiner Kindheit.« S. Fischer Verlage.
Paul Maar: »Das Sams und der blaue Drache.« Oetinger.  


Interview mit dem Autor Helme Heine

Es ist ein Aberglaube, dass man das Kind in sich wachhalten müsse, um für Kinder schreiben zu können.

Helme Heine

Im Kinderbuch »Freunde« erzählte Helme Heine von den Erlebnissen dreier Tiere – und wurde berühmt. Die wahren Abenteuer aber erlebte der Autor in Südafrika und Neuseeland selbst. Heute wird er 80 Jahre alt. 

SPIEGEL: Herr Heine, am Ostersonntag werden Sie 80. Wie geht es Ihnen?

Heine: Danke, gut. Wir haben einen herrlichen Spätsommertag und waren gerade schwimmen.

Gisela von Radowitz: 23 Grad.

Heine: Ja, hier sind 23 Grad.

SPIEGEL Ah, Ihre Frau ist auch da?

Radowitz: Ja, ich bin für das Internet zuständig.

SPIEGEL: Blicken Sie zurück oder nur nach vorn?

Heine: Ich schaue eher nach vorn, aber natürlich auch ein bisschen zurück. Und finde, dass ich ein ganz interessantes Leben hatte. Vor allem, weil wir über zwölf Jahre in Afrika gelebt haben, dann in Irland und Japan. Aber die längste Zeit leben wir hier in Russell.

SPIEGEL: Wie feiern Sie Ihren Geburtstag?

Radowitz: Alle sind eingeladen.

Heine: Ja, wir feiern mit so 30 Freunden aus Russell einige Stunden im Garten. Es gibt ein bisschen Fingerfood und Sekt, und es werden einige Reden geschwungen.

SPIEGEL: Welche Tief- und Höhepunkte sehen Sie, wenn Sie zurückschauen?

Heine: Die waren alle in Afrika. Denn dort bin ich vom Betriebswirt zum Künstler mutiert. 1965 war ich nach Südafrika ausgewandert. Ich habe in einer Werbeagentur gearbeitet, dort Freunde kennengelernt und durch sie meine künstlerische Seite entdeckt.

SPIEGEL: Diese Transformation war der Höhepunkt Ihres Lebens?

Heine: Ja – und gleichzeitig die ärmste Zeit. Acht Mal bin ich ausgeraubt worden, da entstand natürlich auch Hass. Ich kaufte mir ein Gewehr und sagte, den nächsten Einbrecher erschieße ich. Da hätte ich beinahe den Milchmann erschossen.

SPIEGEL: War das der Tiefpunkt?

Heine: Ja. Aber nirgends wurde so viel gelacht und getanzt wie in den ärmsten Vierteln und in Afrika überhaupt. Das hat mich stark gemacht. Ich war auch arm, war mit nichts gekommen. Wie man Stärke gewinnt, indem man positiv denkt, das hat mich an den Afrikanern beeindruckt.

SPIEGEL: Es gibt viele Länder, wo die Sonne scheint. Warum gingen Sie ausgerechnet nach Südafrika, ein Land mit Apartheid-Regime?

Heine: Ich wollte mich selbst davon überzeugen, wie es da ist. Außerdem war es einfach, nach Südafrika auszuwandern. In die USA oder nach Kanada zu gehen, war kompliziert, und in den USA riskierte man, auch mit Green Card zum Vietnamkrieg eingezogen zu werden. Nach Afrika einzuwandern, kostete damals 100 Mark, mit dem Schiff von Triest über Venedig durch den Suezkanal nach Afrika.

SPIEGEL: War damals in Deutschland nicht bekannt, wie die Buren herrschten?

Heine: Das schon, deshalb haben wir uns aufgemacht und versucht, Dinge zu ändern. Ich habe ein politisch-literarisches Kabarett gegründet. Wir waren das einzige in Südafrika, das sich mit Apartheid beschäftigte.

SPIEGEL: Waren auch Schwarze im Ensemble?

Heine: Das war unmöglich. Aber wir haben zum Beispiel »Die Zofen« von Jean Genet gespielt. Wenn man im Stück die Zofen sah, wusste jeder, was damit gemeint war. Das war ein Balanceakt. Wir bekamen Anrufe von der deutschen Botschaft, die sagten: Heine, bitte lass‘ langsam angehen. Wir haben nicht nur da gelebt und das positiv benutzt, sondern auch versucht, politisch über dieses Land nachzudenken.

SPIEGEL: Wie kommt man mit der Apartheid im Alltag zurecht?

Heine: Indem man Schwarze behandelt wie jeden anderen Menschen in der Welt.

SPIEGEL: Sie haben sie besser bezahlt?

Heine: Sicher, sie haben besser gewohnt, mehr zu essen bekommen, soweit es in meinen bescheidenen Verhältnissen möglich war. Glauben Sie mir, wir haben es uns nicht leicht gemacht.

SPIEGEL: Berühmt geworden sind Sie mit dem Bilderbuch »Freunde« von 1982. Bis heute denken die Leute bei Ihrem Namen vor allem daran.

Heine: Ja, das ist ein Klassiker.

SPIEGEL: Ein Hahn, eine Maus und ein Schwein erleben recht harmlose Abenteuer auf dem Land, und es wird zu Zusammenhalt aufgerufen.

Heine: Na ja, nicht ganz. Meine Bücher unterscheiden sich vom Gros der Bilderbücher, weil sie eine elementare Geschichte haben. Ich überlege: Was ist Freundschaft? Wie viele Leute gehören dazu? Zwei Freunde wären das Normale, also nehme ich drei – denn ich will ja auch die Problematik. Dann schreibe ich für Kinder, die nicht lesen können. Es genügt nicht zu sagen, dass die drei Freunde sind. Ich muss das verbildlichen. So kam ich auf das Fahrrad, das die drei nur zu dritt fahren können. Es geht um Freundschaft, nicht um Freunde.

SPIEGEL: Sie möchten eine Botschaft vermitteln und nicht so sehr eine spannende Geschichte erzählen?

Heine: Beides.

SPIEGEL: Die Figuren agieren isoliert von der Außenwelt, die drei bewegen sich in einem keimfreien Kosmos.

Heine: Naja, man könnte noch mehr Schwierigkeiten einführen. Es stehen aber nur eine Seite Text und zwölf Doppelseiten Bilder zur Verfügung.

SPIEGEL: Was ist für Sie ein gutes Kinderbuch?

Heine: Es ist keine Geschichte in kindischer Bla-bla-bla-Sprache, sondern dem Film viel näher als der Literatur. Und es muss auch Erwachsene interessieren. Sonst ist es kein gutes Bilderbuch.

SPIEGEL: Haben Sie auch mal überlegt, Comics zu machen?

Heine: Nein, das ist mir zu dürftig. Ich habe nie gern Comics gelesen. Die »Peanuts« finde ich gut, die haben eine Philosophie.

SPIEGEL: Sie haben derart viele »Freunde«- und andere Tierbücher geschrieben, dass es wie eine Masche wirkt.

Heine: Ich habe genauso viele Bücher mit Menschen gemacht, aber die mit den Tieren sind erfolgreicher. In »Die wundervolle Reise durch die Nacht« zeige ich, dass Schlaf und Traum Geschwister sind. Oder »Samstag im Paradies«: Da habe ich versucht, die Evolution zu erzählen.

SPIEGEL: »Freunde« passte zum Zeitgeist der Achtzigerjahre, in die Zeit der Friedensbewegung. Wäre es heute noch so ein Erfolg?

Heine: Ich verkaufe auch heute noch gut. Bei meinem ersten Buch »Das Elefanteneinmaleins« hieß es, Kinder würden das nicht verstehen – es wurde ein Erfolg. Wenn Sie dann oben sind, gibt es wieder Leute, die sagen »Och, ganz hübsch, aber die Zeit ist vorbei«. Ich glaube das nicht. Elementare Geschichten finden immer ihre Leser. In Deutschland mag das sein, dass es da seinen Zeitpunkt hatte.

SPIEGEL: Janosch hat ähnliche Bücher geschrieben.

Heine: »Oh wie schön ist Panama« ist eines der wenigen Bücher, das herausragt, denn es hat eine elementare Geschichte. Vieles andere war mir zu dünn. Und das tut mir leid, weil ich Janosch auf seine Art mag. Und dann die Vermarktung! Es gab über 1000 Artikel, damit versaut man es sich. Das habe ich immer vermieden.

SPIEGEL: Sie machen aber auch Merchandising auf Ihrer Webseite.

Heine: Ja, aber viel, viel weniger.

SPIEGEL: Warum schreibt man für Kinder?

Heine: Mir geht es nicht um die Zielgruppe, sondern um meine eigene Kreativität. Was mich fasziniert, ist die Inszenierung in Bildern. Es ist ein Aberglaube, dass man das Kind in sich wachhalten müsse, um für Kinder schreiben zu können. Das ist für mich der größte Blödsinn. Die große Kinderbuchautorin Beatrix Potter hasste Kinder so sehr, dass sie die Straßenseite wechselte, wenn ihr welche entgegenkamen. Man trifft auch Autoren, die sagen: »Ich möchte gern einen Roman schreiben, aber ich schreibe erst einmal für Kinder.« Da sehe ich fast rot.

SPIEGEL: »Kritik von Leuten über zwölf interessiert mich nicht«, sagte die Autorin Enid Blyton einmal kühl über Verrisse.

Heine: Ein Kind ist ein gnadenloser Kritiker. Wenn das Buch nicht fasziniert, steht es auf und geht. Um ein großer Kinderbuchautor zu werden, müssen Sie Schriftsteller und Illustrator sein. Die beiden sind Feuer und Wasser. Ein Autor denkt in Worten, braucht Zeit, um etwas zu entwickeln. Ein Illustrator lebt im Jetzt. Wir glauben einem Bild sofort. Wenn ein Autor das beschreibt, bräuchte er zehn Seiten.

SPIEGEL: Hatten Sie die Absicht, mit den Kinderbüchern die Welt besser zu machen?

Heine: Nein, keiner kann die Welt besser machen. Ich habe das für mich gemacht.

SPIEGEL: Haben Sie Freunde fürs Leben?

Heine: Ja. Ich habe wenige Freunde, die aber mein Leben lang. Wenn wir uns früher trafen, musste jeder eine Geschichte mitbringen und sie erzählen. Das habe ich in Afrika gelernt, dort gibt es eine große Erzähltradition. Meine Frau und ich schreiben jeden Sonntag einen Brief an alle Freunde. Sicher, der Kontakt fehlt. Aber hier habe ich einen wunderbaren Garten und zwölf Monate wunderbares Licht. Das ist für einen Maler sehr wichtig.

SPIEGEL: Was war es, was Sie immer wieder aus Deutschland weggetrieben hat?

Heine: Auf Deutschland lasse ich nichts kommen. Es ist ein wunderbares Land – aber zu eng, alles muss ins letzte Detail geplant werden. Im Einzelnen gefallen mir die Deutschen besser als in der Herde.

SPIEGEL: Mit dem Sänger Peter Maffay haben Sie den kleinen grünen Drachen »Tabaluga« erfunden. Vielen geht diese Musicalfigur inzwischen schrecklich auf die Nerven. Haben Sie solche Reaktionen auch schon erlebt?

Heine: Nee, das habe ich nicht mitbekommen. Ich bin hinter diesem Drachen verschwunden. Der ist ein bisschen zu Tode geritten worden. Ich habe da meinen Share bekommen, aber wollte nicht weiter genannt werden.

SPIEGEL: Können Sie gut teilen?

Heine: Ja, sehr gut. Meine Frau sagt immer, ich sei zu leichtsinnig. Geld finde ich nur interessant, wenn ich es mit Freunden teilen kann. Ich kann auch sehr gut wegschmeißen. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz ist an mich herangetreten, weil man an meinem Nachlass interessiert ist. Was mich sehr gefreut hat, dann müssen die Kinder das nicht wegwerfen.

SPIEGEL: Ist es okay, über Ihren Tod zu sprechen?

Heine: Überhaupt nicht schlimm. Wie soll man 80 werden und nicht über den Tod nachdenken? In meiner Familie sind alle einen wunderbaren Tod gestorben. Mein Vater ist im Wald beim Spaziergang tot umgefallen. Meine Mutter ist eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht.

SPIEGEL: Sind Sie eigentlich mit Heinrich Heine verwandt?

Heine: Leider nicht. Ich liebe seine Gedichte und habe gerade ein wunderbares Gedicht von ihm auswendig gelernt:

Das Glück ist eine leichte Dirne 
sie streicht das Haar dir von der Stirne
und küßt dich rasch und flattert fort.
Frau Unglück hat im Gegentheile
dich liebefest an’s Herz gedrückt; 
setzt sich zu dir an’s Bett und strickt.

SPIEGEL: Vielen Dank.


Zur Person
Helme Heine, geboren am 4. April 1941 in Berlin, studierte Betriebswirtschaft, arbeitete und reiste, bevor er Kinderbuchautor wurde. Seinen Durchbruch hatte er 1982 mit dem Bilderbuch »Freunde« und entwickelte 1983 die Drachenfigur für Peter Maffays Musical »Tabaluga«. Über zehn Jahre lebte er in Südafrika, auch einige Jahre in Irland und Japan, seit 1990 in Neuseeland. Mit seiner Frau Gisela von Radowitz schreibt er zudem Romane für Erwachsene. Bis heute schreibt und zeichnet Helme Heine Bilderbücher und ist in verschiedenen künstlerischen Bereichen tätig. 

Beitragsfoto: © sam mcghee | unspalsh

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